Mittwoch, 28. April 2021
AUDIOVERSUM-Expertentalks: Immer noch zu laut?! – Wir fragen bei MED-EL nach
„Ein Tag im Jahr gegen Lärm“ lautet die Initiative von „International Noise Awareness“. An diesem Tag sollen besonders die Ursachen und Auswirkungen von Lärm im Mittelpunkt stehen und wie die Lebensqualität jedes einzelnen nachhaltig zu verbessern ist. Das diesjährige Motto „Immer noch zu laut!?“ lässt erahnen, dass der Lärmpegel, dem wir freiwillig und unfreiwillig ausgesetzt sind, vielerorts immer noch zu hoch ist.
Das Thema Lärm setzt den Startschuss für eine Reihe von Experteninterviews aus den vielfältigen Berufsfeldern von MED-EL, dem weltweit führenden Anbieter innovativer Hörlösungen.
Heute ist Joanna Shepherd, die Leiterin der Reha-Abteilung im Audioversum zu Besuch. Seit vielen Jahren begleitet sie weltweit Kinder und Erwachsene mit Hörverlust. Joanna ist Sprachwissenschafterin und Pädagogin mit Schwerpunkt Spracherwerb, Sprachpathologie und Bilingualismus.
Joanna, du begleitest Menschen, die an Hörverlust leiden auf ihrem Weg zum besseren Hören. Wo beginnt dieser Weg?
Unsere Begleitung und Beratung beginnt beispielsweise ab dem Zeitpunkt, an dem Familien die Nachricht erhalten, dass ihr Kind an einer Hörminderung leidet. In den meisten Ländern wird das bereits nach der Geburt beim sogenannten Neugeborenen-Screening festgestellt. Kommt für das Kind ein Cochlea-Implantat infrage, dann beginnen wir bereits in der Wartezeit darauf mit unserer Arbeit. Dabei werden verschiedene Hör- und Sprachstrategien mit den Eltern besprochen. Für die Sprachentwicklung des Kindes ist die Vermittlung von Kommunikation entscheidend. Kinder lernen mit allen Sinnen, das heißt auch über Berührung, Aufmerksamkeit und spielerische Aktivitäten. Dabei unterstützen wir die Familien.
Wer normal hört, dem sind die krankmachenden Auswirkungen von Lärm zumeist nicht bewusst. Wie erklärst du jemanden, der sich noch nicht damit befasst hat, was Lärm ist?
Lärm definiere ich als die Geräusche, die als zu laut, unangenehm und unerwünscht empfunden werden. Allerdings ist das sehr individuell, hier hat jeder Mensch seine eigene Empfindlichkeitsgrenze. Manche hören zum Beispiel immer Musik beim Lernen. Das ist für mich persönlich unvorstellbar. Ich brauche Stille, um mich konzentrieren zu können. Oder das Vogelgezwitscher, gerade jetzt im Frühling für viele Menschen ein schönes Geräusch. Einige jedoch empfinden es als lästig und störend. Unsere Lärmgrenze ist eben sehr individuell.
Im AUDIOVERSUM-Schreiraum können die BesucherInnen ihre Stimme in Dezibel messen und vergleichen. Dabei färbt sich auch die Skala von Grün bis Orange und letztlich – ab der Hörschadengrenze von 85 dB – auf Rot. Ist dieser Wert von Mensch zu Mensch unterschiedlich?
Es gibt bei Schall den psychosomatischen, also den individuellen Effekt und einen physikalisch messbaren Wert, also die Grenze, die für unser Gehör schädlich ist. Die liegt bei Erwachsenen bei 85 Dezibel und bei Kindern bei 70 Dezibel. Dabei kommt es auch auf die Dauer an, wie lange bin ich diesen lauten Geräuschen ausgesetzt. Grundsätzlich wird empfohlen, Lautstärken über diesem Wert nicht mehr als 8 Stunden täglich und 40 Stunden wöchentlich ausgesetzt zu sein. Wenn ich bei einem Gespräch in normaler Alltagsumgebung meine Stimme erhöhen oder mein Gegenüber sogar anschreien muss, damit er oder sie mich versteht, ist es sicher zu laut.
Besonders laute Geräusche wie Fluglärm oder auch Konzerte kennen alle. Ab wann werden laute Geräusche gefährlich?
Konzerte sind für unsere Ohren sehr anstrengend. Sie dauern oft mehrere Stunden und liegen zumeist bei 120 Dezibel. Da sollte eigentlich immer ein Gehörschutz getragen werden – mittlerweile gibt es sehr unauffällige, bequeme Produkte. Grundsätzlich gilt: alles was schmerzt ist schlecht. Ob es schädlich ist, hängt davon ab, wie nah ich der Lärmquelle ausgesetzt bin und auch um welche Art von Geräusch es sich handelt.
Wie steht es um die Kopfhörer? In unserer Klangwelt haben sie eine akustische Größe von 100 Dezibel. Das ist schon enorm, oder?
Kopfhörer sind sehr trügerisch, weil man den lauten Geräuschen direkt ausgesetzt ist. Von Gesundheitsorganisationen wie der WHO empfohlen, sollte das individuell in den Voreinstellungen der Smartphones und Spielgeräte – wie beispielsweise den jetzt so beliebten Hörspielboxen – begrenzt werden. Als maximaler Richtwert gilt 60 Prozent der höchstzulässigen Lautstärke. Bei Kopfhörern hört jemand Musik mit 110 Dezibel, aber es fühlt sich nicht so laut an. Wenn ich allerdings immer lauter machen muss, um die Hintergrundgeräusche auszublenden, kann ich sicher sein, dass es zu laut ist.
Wie kann ich mein Gehör beim Musikhören schützen?
Es ist wichtig Pausen einzulegen. Nach jeder Stunde etwa 5-10 Minuten, damit sich das Gehör erholen kann. Die Empfehlung zur Dauer kann berechnet werden: Wir hatten ja bereits von den 8 Stunden bei 85 Dezibel gesprochen. Erhöht man den Wert um 3 Dezibel, dann halbiert sich bereits die Verträglichkeit, das hieße bei 88 dB nur mehr 4 Stunden, bei 91 dB nur mehr 2 Stunden. Was das für die 100 Dezibel der Kopfhörer heißt, kannst du dir ausrechnen.
In der Arbeit mit hörbeeinträchtigten Menschen spielt auch die Hörumgebung eine wichtige Rolle. Welche Empfehlungen kannst du uns geben, um unser Gehör dafür zu sensibilisieren?
Wenn wir nach einem langen Schul- oder Arbeitstag nach Hause kommen, möchten wir natürlich entspannen und ausruhen. Dabei vergessen wir oft die versteckten Lärmquellen wie etwa den Kühlschrank oder den Fernseher, die uns in unserem Wohlbefinden stark beeinflussen. Vielleicht gibt es die Möglichkeit einen Platz in der Wohnung einzurichten, wo ich wirkliche Ruhe erleben kann. Hier können auch die Materialien sehr viel ausmachen. Weiche Stoffe und Möbel schlucken und dämpfen Geräusche, harte Gegenstände geben wiederum mehr ab.
Gerade an der Sprachentwicklung von Kindern mit Hörverlust ist erkennbar, wie wichtig eine ruhige Umgebung ist, in der sie nicht abgelenkt werden. Sie lernen mit allen Sinnen, unsere Ohrmuschel erlaubt es viele Geräusche wahrzunehmen, auch wenn man nicht direkt zuhört. Man nennt das auch das zufällige Hören bzw. das „Überhören“ von Sprache, das Sammeln essentieller Eindrücke für unser Gehirn, um Sprache zu lernen. Wenn dann auch noch Lärm dazukommt, hat das Kind keine Möglichkeit, diese so wichtigen sprachlichen Laute aufzunehmen.
In unserer Abteilung beschäftigen wir uns mit fast allen Aspekten der Hör-Rehabilitation. Da gehört natürlich auch der Alltag in Kindergarten oder Schule dazu. Wir tauschen uns hier mit den PädagogInnen und SprachtherapeutInnen aus, wie die ideale Lernumgebung für Kinder mit Hörimplantat aussieht. Davon profitieren auch die Kinder mit gesundem Hörvermögen. Natürlich gibt es Schullärm wie Pausen, Turnstunden oder Musikstunden. Es gibt dazwischen aber auch immer Ruhephasen, die für unsere Ohren sehr entscheidend sind. Viele Elementareinrichtungen arbeiten mit einem ruhigen Mittagskreis oder eigenen Entspannungsecken. Das sollten auch wir Erwachsene bewusster in den Alltag einplanen. Auch die Art der Entspannung sollten wir uns überlegen, denn Musikhören ist wieder ein sensorischer Reiz. Aber auch das ist natürlich so individuell wie unser Charakter.
Die beste Herangehensweise an das Thema Lärm ist, die eigenen Lärmquellen für sich zu definieren, seine individuelle Belastungsgrenze zu entdecken und zu üben, wie man Lärm vermeiden oder am besten mit ihm umgehen kann. Die eigene Balance zu finden zwischen dem physikalischen und dem persönlichen Empfinden von Geräuschen ist das Wichtigste.
Ein sehr guter Schlusssatz wie ich meine. Danke für dein gebündeltes Expertenwissen liebe Joanna!
Ich freue mich, wenn Ihr demnächst wieder auf unserer Blogseite mitliest!
Eure Michaela
Wer sich einen schnellen Eindruck vom Lärmpegel machen möchte, auf der Seite der Lärmliga Schweiz hab ich dazu einen sehr guten Überblick gefunden.